cortical linguistics
Allgemeine Informationen
Generativismus
Das Vorwort, das Günther Grewendorf seiner "Minimalistischen Syntax", einer Darstellung aktueller generativer Sprachtheorie, voranstellt, beginnt mit dem Satz:
"Der kognitiven Linguistik geht es darum, jene abstrakten strukturellen Gemeinsamkeiten aller natürlichen Sprachen zu ermitteln, an denen sich die genetischen Grundlagen einer angeborenen Sprachfähigkeit erkennen lassen." (Grewendorf, 2002)
Man mag sich fragen, warum es eigentlich abstrakte und nicht konkrete Gemeinsamkeiten sind, die den Gegenstand der kognitiven Linguistik bilden und warum nicht die Rede davon ist, daß die genetischen Grundlagen dargestellt werden, sondern nur, dass sie erkennbar sein sollen. Der Grund für diese Formulierungen ist klar: Immer dann, wenn man die Aussagen der generativen Sprachtheorie wörtlich nimmt oder gar auf Realitäten bezieht, werden sie offenkundig falsch. Kritiker haben sich immer wieder in dieser Richtung geäußert, ohne dass damit etwas bewirkt worden wäre.
Sprachproduktionsmodelle
Die traditionell an psycholinguistischen Experimenten orientierten Sprachproduktionsmodelle, klassisch Levelt (1989) und die "Implementierungen" von Roelofs (z. B. 1997), sollten eigentlich den biologischen Realitäten näher stehen. Das Problem ist aber, dass zur Kontrolle der Modelle nur ihr (äußeres) Verhalten - verglichen mit den experimentellen Daten - herangezogen wird, und die modellhaften Strukturen selbst nicht weiter an biologischen Realitäten gemessen werden. So kommt es, dass Eigenschaften von "Knoten" (die nicht Neuronen sind) in "netzförmigen" Strukturen verwendet werden, für die neuronale Äquivalente nicht gefunden werden können bzw. auch nicht gesucht werden.
Konnektionismus
Noch etwas deutlicher mit einem biologischen Outfit versehen treten konnektionistische Modelle sprachverarbeitender Prozesse auf. Die Bezeichnung als "künstliche neuronale Netze" verleitet, trotz des Attributs "künstlich", zur Vorstellung, dass hier wirklich biologische Grundlagen beachtet werden. Jeder Konnektionist, der seine Klassiker aufmerksam gelesen hat, weiß aber, dass es grundlegende Probleme gibt, den Schritt vom konnektionistischen Netz zur biologischen Realität zu tun. Die "künstlichen Neuronen" haben nur eine oberflächliche Ähnlichkeit mit ihren biologischen Vorbildern und man kann leicht zeigen, dass sie Eigenschaften haben, die der Biologie widersprechen. Auch die Gesamtstrukturen konnektionistischer Modelle haben mit Strukturen des Kortex wenig gemeinsam.
Fazit
Es sieht so aus, als würden Theorien, von denen man weiß, dass sie falsch sind, mangels Konkurrenz beibehalten und weiterentwickelt. Das kann auf Dauer keine gute Strategie sein. Wichtig wäre es, wenigstens nach Kriterien zu suchen, die einigermaßen haltbare Rahmenbedingungen abgeben könnten für akzeptierbare sprachwissenschaftliche Konstrukte.
Es ist doch blauäugig, erst einmal komplizierte "mentalistische" bzw. "kognitive" Sprachtheorien aufzubauen, und dann erst nachzusehen (oder schließlich darauf zu verzichten, nachzusehen) ob das Gehirn, das als Sitz des sprachlichen Wissens und der Ort der ablaufenden sprachverarbeitenden Prozeduren durchaus akzeptiert wird, die konstruierten Annahmen überhaupt erlaubt. Die Ausrede, dass wir nicht wissen, wie das Gehirn wirklich funktioniert, ist fadenscheinig, solange man nicht einmal den Versuch macht, sich zu informieren.
Kortikale Linguistik
Die kortikale Linguistik geht den umgekehrten Weg: bildhaft gesprochen nicht vom Dach zum Fundament, sondern vom Fundament zum Dach. Das Fundament besteht in der ungeheuren Fülle bestehender und einigermaßen stabiler Erkenntnisse über kortikale Strukturen und Prozesse. Die Nutzung dieser Informationen für linguistische Zwecke wird ermöglicht durch eine wissenschaftstheoretisch solide fundierte Simulationsmethodik, deren Ergebnisse mit jeder erreichbaren empirischen Evidenz konfrontiert werden (dürfen).
Der Aufwand, der nötig ist, um zu einigermaßen dauerhaft brauchbaren linguistischen Konstruktionen zu kommen, sollte auf diese Weise wenigstens geringer werden.
Verwandte Fachgebiete: Neurolinguistik, Kognitive Linguistik, Neuropsychologie
Interdisziplinäre Verflechtung: Neurophysiologie, Psychiatrie, Neurologie, Informatik (Computerlinguistik), Psychologie (Entwicklungspsychologie, Sprachpsychologie), Musikwissenschaft, Philosophie (Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie)
Stichwörter (Auswahl von Gegenständen, alphabetisch): Alzheimer-Demenz, Amnesie, Aphasie, Denken, Dissoziative Persönlichkeitsstörung, Gedächtnis, Konnektionismus, Kohärenz, Konzeptbildung, Künstliche neuronale Netze, Kurzzeitgedächtnis, Lesen, (mentales) Lexikon, Modellbildung, Modellhierarchien, Modellserien, Multiple Sklerose, Parkinsonismus, Phonetik, Phonologie, Prototypensemantik, Prototypentheorie, Schizophrenie, Semantik, Spracherwerb, Sprachproduktion, Sprachverstehen, Stottern, Syntax, Textlinguistik, Textverstehen
In diesem Text zitierte Literatur:
Grewendorf, G. (2002) Minimalistische Syntax. Tübingen, Basel: Francke
Levelt, W. J. M. (1989) Speaking. From intention to articulation. Cambridge/Mass.: MIT Press
Roelofs, A. (1997) Syllabification in speech production. Evaluation of WEAVER. Language and Cognitive Processes 12, 657-693
Letzte Änderung 15. 6. 2003